Behindert durch Begabung

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Inklusion bedeutet nicht nur, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und lernen sondern vielmehr, dass jedes Kind nach seinen Schwächen oder Stärken lernen darf. Wie wichtig ein Umdenken in Richtung individualisiertes Lernen ist, welche Grenzen die derzeitige Flickschusterei hat und wie individuelles Lernen gelingen kann lest ihr in diesem Beitrag.

Der Sohn einer Freundin schreibt in der ersten Klasse einfach nicht ordentlich in die Zeile, braucht aber ansonsten in allen Fächern Extraaufgaben, da ihm der übliche Schulstoff viel zu einfach ist. Julian mag es gar nicht, immer irgendetwas besonderes in der Schule machen zu müssen. Er will so wie seine Freunde behandelt werden und fühlt sich unwohl. Nun wurde vorgeschlagen, dass der Junge einen IQ-Test macht. Was man sich wohl von so einer IQ-Zahl erwartet? Keine Ahnung! Dass der Bub schlau ist, ist offensichtlich. Er saugt seine Welt auf und stellt Fragen, auf die selbst Google nicht gleich eine Antwort hat. Jedem ist ganz ohne Test klar, dass Julian ganz viel geistiges Futter braucht.

Für den Lehrer bedeutet dies aber viel mehr Arbeit, viel mehr Aufwand und das bei einer Klasse von 25 Kindern. Klingt nach einem Kind mit besonderem Förderbedarf ganz wie bei uns – nur irgendwie andersrum.

Nun haben wir uns gefragt, was wird wohl passieren, wenn bei einem Test 3-8 IQ-Punkte zur Hochbegabung fehlen? Das Kind einfach „normal“ ist. Und was ist, wenn tatsächlich die Hochbegabung festgestellt wird? Was gibt denn unser Schulsystem bitte für die Klugen und Schnellen her? Welche befriedigenden Möglichkeiten bleiben den Lehrern?

Bei Julian wird überlegt, ob man ihn die Klasse überspringen lässt. Ein Klassenwechsel würde den Sprung in ein anderes soziales Gefüge bedeuten. Aber weil er eben nicht ordentlich in die Zeile schreibt, kommt das ja eh nicht in die Tüte! Jetzt sitzt er da und langweilt sich. Die Lehrerin ist unzufrieden, die Eltern sind genervt. Eine individuelle Lösung für Julian gibt es nicht. Es ist eben so wie es ist!

Einmal mehr orientiert man sich hin zum Mittelmaß und nicht hin zur individuellen Leistungsfähigkeit. Schade!

Ich finde, man kann ruhig sagen, der Junge wird in seiner kognitiven und sozialen Entwicklung behindert. Nämlich durch unser unvernünftiges und starres Schulsystem. Ausdrücklich möchte ich vermerken, dass ich damit nicht die Lehrerin meine! Ich gebe zu, diese Perspektive mag erstmal ungewöhnlich sein, ist aber tatsächlich der Kern von ernstgemeinter Inklusion, denn das was mit Julian passiert ist strukturell das Gleiche, das auch mit Schülern am anderen Ende der IQ-Skala passiert – Sie passen nicht in die Norm!

Das Grundprinzip der Begleitung hochbegabter Grundschüler ist dasselbe wie das der Unterstützung lernschwacher oder benachteiligter Kinder. Immer gilt es, das Potenzial des Einzelnen zu erkennen und mit passenden Angeboten die Entwicklung dieses Potenzials zu ermöglichen. Eine gut umgesetzte Binnendifferenzierung ist daher eine gute Grundlage für die Unterstützung. Aber selbst die reicht unter Umständen nicht aus, um dem Lernhunger der Hochbegabten nachzukommen. Welche Unterstützung genau nötig ist, kann nur im Einzelfall entschieden werden und selbst junge Grundschulkinder können klare Wünsche äußern, was sie zusätzlich lernen, erfahren oder erleben möchten. Nicht alles lässt sich in der Schule umsetzen, aber mit dem Wunsch, auch diesem Kind zu helfen, ist selbst in einer Regelschule viel möglich. Zumal alle Schulgesetze die individuelle Förderung vorsehen und somit auch evtl. ungewöhnliche Methoden oder Wege deckt. (vgl. Ebbert, B)

Damit wird klar, warum echte Inklusion für alle Schüler wichtig ist, denn damit erhöht sich der Druck auf unser Bildungssystem auf individuelles Lernen zu setzen. Darum wird ein entschlossener Paradigmenwechsel wichtig! Und bitte keine dämliche Flickschusterei. Es geht vielmehr um eine grundlegende, handlungsleitende Idee, nämlich der, dass in einer  Klasse immer verschieden leistungsstarke Kinder sind die fast alle (vgl. Finnland) immer mal wieder „Unterstützung“ brauchen. Es geht eben nicht nur um den einen oder die zwei Sonderlinge, die auch noch was Extra brauchen, sondern um das Befriedigen der Lern-Bedürfnisse eines jeden Kindes.

Nun höre ich schon einige sagen… 😉

Klingt gut, ist aber nicht umsetzbar… sowas geht bei uns nicht… kostet zuviel in der Umsetzung…

Zunächst einmal muss ich ganz ehrlich entgegnen, inklusive Bildung in Regelschulen darf auch was kosten oder seht ihr das anders? Also ich zahle dafür gern meine Steuern und viel teurer als ein aufgeblähtes Förderschulsystem kann es dann auch nicht sein, oder?

Und zu den anderen Gegenargumenten kann man sagen, dass die Gewinner der Pisa-Studie Länder sind, die eben auf individuelles Lernen setzen. Die sich politisch auf die Fahnen schreiben, dass sie kein Kind zurück lassen. In Finnland haben Lehrer ein sehr hohes Ansehen und es gibt keinen teuren Markt für Nachhilfe (vgl. Devantie 2014). Diese Länder haben Erfolg, weil sie ganz selbstverständlich Inklusion leben. Inklusion ist also nicht nur eine Frage von Haltung – diese sollte selbstverständlich sein, sondern vor allem eine Frage der grundsätzlichen Veränderung unseres Schulsystems hin zu einem System, welches das Kind in den Mittelpunkt stellt. Und natürlich ist Lernen in einer Lerngemeinschaft von Starken und Schwachen wichtig, damit unsere Kinder sozial und emotional nicht verarmen oder sich gar stigmatisiert fühlen müssen!

Literatur:

Ebbert, Birgit: Hochbegabtenförderung in der Grundschule. Artikel online auf lernado 

Devantie, Rainer (2014): Mein finnisches Bildungserlebnis. online: gew.de 

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